THE SISTERS OF MERCY

THEY’RE NOT DEPARTED OR GONE

The Sisters Of Mercy sind den meisten bekannt für Underground-Hits der 80er wie “Temple Of Love” oder “This Corrosion”. Die Band um Frontmann Andrew Eldritch hatte von einer gern in Schubladen denkenden Musikpresse früh ein "düsteres" Image weg und galt und gilt vielen als "Kultband". Mit beidem hatten die Schwestern nie viel am Hut: Andrew bezeichnet die Band lieber als "industrial groove machine", irgendwo zwischen Pet Shop Boys und Motörhead, und die Texte strotzten oft nur so vor Witz, Sarkasmus und bissigen Kommentaren zum Zustand der Welt: Realität statt Eskapismus! Seit dem letzten Album sind über 30 Jahre vergangen; trotzdem touren die Jungs immer noch regelmäßig auf zum Teil ausverkauften Bühnen.

2019 hatten sich die Sisters gründlich renoviert, und im März 2020 sollte der erste Besuch der Band in Saarbrücken anstehen. Dann kam Corona, und das Konzert wurde viermal verschoben, bevor es jetzt im April 2022 endlich soweit ist. popscene hatte vor dem ursprünglichen Termin den Leadgitarristen Ben Christo getroffen, der seit 2006 an Bord ist. Also, genug der Jahreszahlen; rein in’s Interview-Vergnügen.

LET’S COME TOGETHER… IN SWEET HARMONY

Ben, Du bist ja nicht nur Gitarrist bei den Sisters, sondern auch sonst schwer beschäftigt. So bist Du heute (25.02.2020) mit Nathan Gray und Band für den letzten Abend Eurer Tour in Saarbrücken. Du hast auch beim Album mitgewirkt. Wie war’s denn so?

Großartig war’s! Ich durfte da Teil einer fantastischen Gruppe von Musikern sein; alle enorm talentiert. Für Nathans Album “Working Title” habe ich viele Backing Vocals und Gitarrenparts aufgenommen und auch viel im Bereich Arrangement gemacht. Gerade letzteres liegt mir total. In den letzten Jahren habe ich nebenbei für viele Bands die Backing Vocals arrangiert und auch eingesungen oder einsingen lassen. Ich stehe einfach auf die Arbeit mit Harmonien. Früher hätte ich mir nie träumen lassen, dass das so viel Spaß macht. Ich meine, welches Kind sagt schon “Wenn ich groß bin, will ich Hintergrundgesang arrangieren!” (lacht). Aber da bin ich ein bisschen nerdy. Ich liebe einfach die klanglichen Texturen, die entstehen, wenn man mehr als zwei Gesangslinien kombiniert. Das ergibt eine Resonanz, auf die Menschen auf einem sehr basalen Level reagieren. Es berührt einen einfach.


Ihr habt ja auch bei den Sisters teilweise recht ausgefeilte Arrangements im Hintergrund. Bei “More” z.B. müsst Ihr Gitarristen mit euren Background Vocals einen ganzen Chor ersetzen.

Genau! In den letzten Jahren haben wir ab und zu auch wieder Sängerinnen für den Background auf die Bühne geholt; 2019 z.B. A.A. Williams, die für uns auch die Shows eröffnet hat. Eine weibliche Stimme hebt gerade die Sisters-Songs oft auf ein ganz anderes erzählerisches Level, und viele Leute nehmen das auch als typisches Element des Sisters-Sounds wahr, obwohl es eigentlich nur eine Handvoll Sisters-Nummern mit weiblichem Gesang gab. Es gibt dem Ganzen ein Pop-Feeling, ohne kitschig zu wirken, und es wirkt hymnenhafter. Für mich hatten die Sisters für eine Rockband eh immer eine starke “weibliche” Seite; nicht nur wegen des Namens (lacht). Es war nie eine Macho-Band; und wir ziehen fast zur Hälfte weibliches Publikum an. Bei anderen Rockbands stehen zu 95 Prozent nur Kerle rum. Die Sisters hatten nie so ein maskulines, aggressives Gehabe.


Nun zu Dir, Ben. Du bist seit 2006 bei den Sisters, Du hast Deine eigene Band Diamond Black, hast mit Leuten wie eben Nathan Gray, aber auch Killing Joke und der Industrial-Rock-Legende Raymond Watts a.k.a PIG (und früher KMFDM) zusammen gearbeitet, und Du veranstaltest mit “Shot Through The Heart” eine Art 80s-Rock-Cover-Spektakel in London, richtig?

Ja, letzteres hat als DJ-Event angefangen, wenn ich mal nicht gerade auf Tour war. Ich mag ja viele alternative Musikstile, aber ich habe ein geradezu enzyklopädisches Wissen über die Rockmusik der 80er. Ich führte also einen Club, wo ich diese Sachen aufgelegt habe. Irgendwann dachte ich, ist ja lächerlich, ich kann Gitarre spielen, ich kann singen, warum machen wir das Ganze nicht einfach live? Ich wusste, dass es ein Publikum für so was gibt, also schnappte ich mir einen Haufen der tollen Musiker, die ich kannte, und wir veranstalteten einen Abend pro Monat. Das wurde aber schnell zu viel, zu teuer und zu zeitaufwändig. An den Abenden habe ich drei Stunden gespielt, war der “musical director”, habe vorher die Promotion gemacht - als hätte ich noch eine weitere Band! Aber es hat mir und dem Publikum wahnsinnig viel Spaß gemacht. Deshalb machen wir das Ganze momentan noch vier Mal pro Jahr, zu Anlässen wie Halloween oder Weihnachten.

THE DEVIL’S FLAMING HOOF

Du bist also richtig fleißig im Bereich Rock’n’Roll. Aber wie kam’s dazu? Wolltest Du schon immer Musiker werden?

Ich habe als Kind ganz klassisch mit Luftgitarre angefangen (lacht). Ich habe bei meinen Eltern eine unbeschriftete Kassette gefunden, die sich später als das erste Album von Steely Dan raus gestellt hat. Damals schon antik, aber sowas stört einen als Kind nicht. Später beeinflusste mich vor allem mein Onkel. Der ist nur 8 Jahre älter als ich, und er hörte jede Menge Def Leppard, Europe, Bon Jovi, aber auch Sachen wie The Cure, Nine Inch Nails und - die Sisters. Tatsächlich haben die mich damals schon begeistert, sowohl vom Sound und der Produktion her, und den Gesang und die Texte fand ich geheimnisvoll. Mein Onkel hat mich dann auf Konzerte von AC/DC und Judas Priest mitgenommen. Das Level an Drama und Theatralik hat mich nicht mehr los gelassen. Diese Erfahrungen und die Musik von Def Leppard und The Cult haben mich dazu gebracht, Gitarre zu lernen.


Dankenswerterweise haben meine Eltern mir direkt eine E-Gitarre besorgt; so konnte ich direkt die Sachen spielen, die mir gefallen haben. Ich hab mit 10 meinen ersten von AC/DC und Fantasy-Büchern inspirierten Song geschrieben. Er hieß “The Devil’s Flaming Hoof” (lacht). Ich hatte von Anfang an auch Spaß am Songwriting, nicht nur am Spielen.


Von da an war ich erstmal quasi eine One-Man-Band, komplett mit selbst gezeichneten Covers und allem drum und dran. Ich habe mit zwei Tonbandgeräten eine Art primitiver Mehrspuraufnahme hinbekommen, indem ich mich auf dem einen aufgenommen habe und das dann als Playback für die zweite Aufnahme benutzt habe usw. Das war damals für mich total bahnbrechend. Heute könnte das vermutlich jeder 10-Jährige wesentlich einfacher am Computer mit einer beliebigen Software (lacht). Aber für mich war damals der Weg das Ziel. Ich war auf mich allein gestellt und habe deshalb viel lernen können.


Mit 11 war ich dann der Jüngste in einer Band in der Schule. Die anderen waren so ca. 15, 16. Ich hab damals einfach sehr viel gespielt und war sehr fokussiert auf die Sache; deshalb wurde ich von den Älteren ernst genommen. Wir haben dann tatsächlich einen Bandwettbewerb gewonnen. Sowas ist in dem Alter natürlich aufregend. Mit 15 bin ich dann in die Band meines Onkels eingestiegen. Die war beeinflusst von Zeug wie Therapy? und Nirvana, mit einer Sängerin. Stell’s dir vor wie eine Band-Version von “Tank Girl” (lacht).


Als das auseinander ging, kam die erste “ernsthafte” Band namens AKO. Wir spielten eine Mischung aus Punk, Metal und Rock. Wir waren rund um meine Heimatstadt Bristol dann auch relativ erfolgreich, mit Gigs und einem Album mit guten Rezensionen in Kerrang und Metal Hammer. Da war ich 19 oder 20. Über Umwege wurde Bob Marlette (Produzent von u.a. Alice Cooper und Rob Halford) auf uns aufmerksam, der das zweite Album mit uns machen wollte. Dann kam 9/11, und jeder hatte plötzlich andere Sorgen. Der Deal kam nicht zustande. “Musikalische Differenzen” zwischen mir und dem Sänger gaben uns dann den Rest. Rückblickend kindisches Konkurrenzgehabe (lacht). Nach einem desaströsen letzten Gig auf dem “South by Southwest”-Festival haben wir’s dann sein gelassen und ich bin dann ganz klischeehaft nach London gezogen, um “ernsthaft” Musiker zu werden.


Ich hab dann erstmal allein Songs aufgenommen und bei Myspace hochgeladen. Die Älteren unter uns werden sich erinnern; man konnte damals seine Einflüsse angeben. Also schrieb ich, was ich damals cool fand: Therapy?, Killing Joke, The Cult, The Sisters Of Mercy… Und eines Tages bekam ich einen seltsamen Anruf….

DER THUNFISCH-KAROTTEN-MOMENT

Ich glaube, wir nähern uns einem historischen Moment: Deinem “Casting” bei den Sisters. Würdest Du diese denkwürdige Nummer noch einmal für unsere Leser rekapitulieren?

Ja, man hat immer so glamouröse Vorstellungen; der große Moment und so. Aber nein, es war der unglamouröseste Zeitpunkt von allen: Dienstagnachmittag (lacht). Ich weiß es noch genau; ich wollte mir für meine Schicht in einem Weinladen ein Sandwich machen, stand vorm Küchenschrank, und drin waren nur noch Karotten und ne Dose Thunfisch. Während ich überlegte, was man damit anfangen könnte, bekam ich einen mysteriösen Anruf: Eine männliche Stimme sagte: “Wir würden Dich gern zum Vorspielen für unsere Band einladen. Wir brauchen einen neuen Gitarristen.” Ich fragte, ok, welche Band? “Es ist meine Band, aber ich verrate den Namen nicht” Er sagte, die Musik sei ne Mischung zwischen U2 und Motörhead. Ich dachte, da erlaubt sich jemand einen Scherz mit mir, oder es ist jemand, der sich kräftigst selbst überschätzt. Ich sah mich schon in irgendeiner obskuren Coverband rumklampfen. Naja, der Typ wollte offensichtlich nicht viel verraten, aber am Ende ging es um eine anstehende US-Tour, und es wurde angedeutet, dass es eine bekanntere Band sei. Dann hieß es, er ruft mich am nächsten Tag wieder an. So weit, so hmm.


Im Nachhinein verstand ich die Geheimniskrämerei: Adam Pearson, mein Vorgänger, hatte gerade die Band in Richtung MC5 verlassen, aber die US-Tournee war schon geplant. Damit der Tour-Promoter dann keine kalten Füße bekommt, hält man eben lieber den Ball flach. Am nächsten Tag schaffte ich es dann irgendwie, den Anruf zu verpassen. Ich rief zurück: Keiner geht dran. Verdammt! Ich kam bei einem Faxgerät raus. Ich war kurz davor, aufzugeben, weil eh schon alles so eine seltsame Nummer war, aber man weiß ja nie. Ich ging also in’s Internetcafe und schickte ein Fax, indem ich mich für den verpassten Anruf entschuldigte. Sofort danach klingelte mein Handy. Später stellte sich heraus, dass mich das gerettet hat, weil Andrew es ziemlich clever fand, wie ich mit der Situation umging.


Ich fragte, was soll ich für das Vorspielen vorbereiten? “Spiel einfach was von Hendrix.”. Na gut. An dem Tag stieg ich dann aus dem Zug und wartete, bis ich abgeholt werde. Dann fuhr ein Typ mit nem riesigen Iro und Lederjacke in einem alten Austin Rover vor, dessen Boden voll mit leeren Chipstüten war. Das war Chris Catalyst, unser alter Rhythmusgitarrist, den ich damals noch nicht kannte. Er lud mich und mein Gepäck ein, und wir fuhren zum “Proberaum” (der Keller von Chris’ Haus, wie sich herausstellte). Da war also Chris, ein Typ mit nem Laptop (Si Denbigh, Daves Vorgänger als “nurse to Doktor Avalanche”), und ein Typ mit Sonnenbrille, Wollmütze und einer Dose Bier (the one and only Andrew Eldritch) auf einem alten Sofa. Jetzt war also ich mit diesen seltsamen Leuten in dieser seltsamen Location. Ein mulmiges Gefühl. Freunde hatten mich vorher schon gebeten, mich zwischendurch mal zu melden.


Ok, Chris fing an, Riffs zu spielen, die ich nachspielen sollte. Und wenn ich als Musiker eins gut kann, ist es, Dinge nach Gehör nachzuspielen. Das lief also. Dann kamen ein paar Akkorde und Soli dran. Und bei manchen Sachen dachte ich, das klingt doch irgendwie nach den Sisters, von den Akkordauflösungen und so her. Konnte das sein? Das wäre ja der Hammer! Ich hatte das letzte Foto der Band Jahre zuvor gesehen, und wenn Du die Leute dann aus dem Kontext gerissen vor Dir siehst, bist Du Dir nicht sicher. Naja, ohne groß nachzudenken, spielte ich dann das Riff von “Doctor Jeep”, um zu sehen, ob und wie jemand reagiert.


Sonnenbrille-Wollmütze-Bierdose sofort: “Das ist einer unserer Songs”. Chris erklärte mir dann direkt, wie man ihn live spielt. Ab dann war ich offiziell aufgeregt; meine Hände zitterten. Im Nachhinein war ich froh, dass ich es vorher nicht wusste. Ich hätte es vielleicht vor lauter Aufregung vergeigt. Ich schaffte es aber wenigstens, in dem Moment cool zu bleiben und nicht in Jubel auszubrechen. Nach dem “Casting” sind wir einen trinken gegangen und haben uns nett unterhalten. Dann hieß es, Du hörst in ein paar Tagen von uns. Danach kam die Zusage, wir begannen zu proben, und ein paar Wochen später saß ich im Tourbus auf dem Weg nach Las Vegas. Vom Weinladen in eine meiner Lieblingsbands! Ich weiß bis heute nicht, wo sie meine Telefonnummer her hatten (lacht).


Hast Du nie gefragt?

Nein, tatsächlich nicht. Meine Myspace-Seite war damals mit einer Datenbank für Musiker verbunden, in der meine Nummer war; das wäre der einzige Anhaltspunkt. Es bleibt mysteriös (lacht). Ich gehe jedenfalls davon aus, dass ich damals die richtige Mischung aus relativ unbekannt, aber dennoch einigermaßen erfahren mitgebracht habe.

MOTOWN, ZEN UND DIE KUNST,
EINEN GITARRISTEN ZU FINDEN

Dann spulen wir mal vor. Du warst von jetzt auf gleich Mitglied einer nicht gerade unbekannten Band. Wie ist es Dir damit ergangen?

Naja, ehrlich gesagt habe ich eine gute Zeit lang gebraucht, um vor allem stilistisch in der Band anzukommen. Rückblickend habe ich gerade am Anfang viel zu metal-lastig gespielt und es teilweise auch übertrieben; Windmühlen und so (lacht). Obwohl ich die Band vorher lange kannte und liebte, hatte ich sie offenbar noch nicht richtig “verstanden”. Dazu setzte ich mich selbst unter Druck und wollte alles perfekt machen. Alles Teil der Lernkurve. Andrew hat mir dann sehr geholfen. Er gab mir alte Motown-Alben zum anhören und machte mich darauf aufmerksam, dass meine Gitarre nicht während eines ganzen Songs im Vordergrund stehen muss, sondern Teil der “Maschine” ist. Eine ziemlich Zen-ähnliche Erfahrung für mich. Nach ein paar Touren war ich dann so weit, dass ich mich wohl fühlte und mein Spiel komplett in die Band gepasst hat.


Die Sisters waren ja mittlerweile schon länger vor allem eine Live-Band, also sind wir regelmäßig auf Tour gegangen, haben dabei immer wieder an den alten Songs rumgebastelt, und zwischendurch auch mal eine neue Nummer geschrieben und gespielt. Ich war zufrieden; es war eine angenehme Routine, die uns und den Fans Spaß gemacht hat. Richtig auf den Kopf gestellt hat uns dann das Jahr 2019…


Allerdings, das war ein interessantes Jahr für die Band und ihre Fans. Ihr wart in vielerlei Hinsicht so aktiv wie schon lange nicht mehr, und es gab einige große Veränderungen: Ihr hattet beispielsweise plötzlich einen neuen Gitarristen. Was war denn da los?

Oh ja, da hat sich viel getan, und plötzlich war alles anders (lacht): Wir hatten die nächste Tour für den Herbst 2019 geplant, aber dann gab es Terminschwierigkeiten bei unserem langjährigen Rhythmusgitarristen Chris Catalyst; er konnte nicht teilnehmen, aber die Tour stand bereits, also musste ein neuer her. Das war gar nicht so einfach: Wir brauchten jemanden, der schon einiges an Erfahrung mitbringt, natürlich gut Gitarre spielen kann, aber auch der Hintergrundgesang war ein wichtiges Kriterium. Außerdem sollte die Person natürlich zu uns passen. Ich sage bewusst Person, weil wir nicht gezielt nach einem Mann gesucht haben. Also habe ich drei Leute vorgeschlagen, die ich bereits kannte und mit denen ich schon vorher zusammengearbeitet habe. Geworden ist es schließlich der Australier Dylan Smith, mit dem ich früher in einer Band namens “I Nation” gespielt habe.

Dann haben wir angefangen, für die Tour zu proben, und über den Sommer spielten wir die ersten Shows auf Festivals in neuer Besetzung. Es wurde schnell klar, dass die Chemie noch besser stimmte als gedacht, und dass Dylan einen ganz neuen Schwung und Begeisterung mitbrachte, was den Rest der Band völlig mitgerissen hat.

NEUE IDEEN WIE AM FLIESSBAND

Ist das mit der Grund dafür, dass Ihr nach gefühlten Ewigkeiten wieder einige neue Songs am Start habt?

Es hat auf jeden Fall eine Rolle gespielt. Wir haben früher eher ab und zu was neues geschrieben und gespielt, aber momentan haben wir tatsächlich die produktivste Phase seit Jahren. Wir sitzen auf einem riesigen Haufen Material! (lacht) Es war gar nicht unbedingt geplant, sondern hat sich ganz natürlich ergeben, weil plötzlich alles gepasst hat. Dylan war vorher nicht nur ein Fan der Band, sondern maßgeblich von ihr beeinflusst. Als wir dann beschlossen hatten, was Neues auszuprobieren, waren wir uns schnell einig, wie die Sisters heute klingen sollten, ohne das Erbe der Band zu “verraten”. So begannen die Ideen zu sprudeln.


Wie läuft das in der Praxis? Bei vielen Bands wäre das eine eher langweilige Frage, aber neue Songs waren bei den Sisters lange doch eher rar gesät. Kannst Du Eure Arbeitsweise ein bisschen beschreiben?

Das lief irgendwann wie am Fließband, ohne dass wir das geplant hatten ((lacht). Ganz unterschiedlich: Manchmal habe ich ein Riff im Kopf, und wir bauen den Song drum rum. Ein andermal sitzen alle zusammen, wir lassen Doktor Avalanche (ehemals nur Drumcomputer, mittlerweile auch für Bass und Synths zuständig) einen Beat in einer bestimmten Geschwindigkeit spielen und Andrew summt oder singt ein Riff drüber. Ich “übersetze” das dann auf die Gitarre und schmiede mit Dylan und Dave eine grobe Songstruktur, die wir nach und nach ergänzen und ausschmücken. Dann reden wir über Gesang und Texte, wobei jeder seine Ideen einbringen kann, die Andrew dann vielleicht als Ausgangspunkt benutzt. Auf diese Art haben wir teilweise sechs oder sieben neue Songideen an einem Tag auf den Weg gebracht. Jetzt haben wir fast zu viel neues Zeug. (lacht). Jeder von uns bringt seine eigenen Talente mit. Ich kann gut Ideen auf der Gitarre umsetzen, während Dylan und vor allem Dave sich um die “Produktion” kümmern. Was wir letzten Endes mit dem Material machen, müssen wir mal sehen. Natürlich werden wir vieles davon live spielen.

UMGEBAUTE GITARREN UND SONGS

Du hast Dave Creffield a.k.a. “Ravey Davey” schon erwähnt, und auf dem neuen offiziellen Bandfoto sind vier statt drei Jungs zu sehen. Dave ist seit Jahren live als “Kindermädchen” für Doktor Avalanche mit auf der Bühne, aber wer ist der mysteriöse Einpeitscher überhaupt, und was ist sein Job?

Auf den Doktor aufzupassen ist noch der kleinste Teil seiner Arbeit. Dave ist nicht nur ein Produzent, der mit Bands wie Embrace und Kaiser Chiefs gearbeitet hat, sondern auch ein Tausendsassa. Die Art von Typ, der Deinen Verstärker und Deine Schuhe reparieren kann. Unser eigener McGyver! Ein Beispiel: Dylan und ich wollten weiße Gibson Thunderbirds für die Bühne. Dylan konnte noch eine auftreiben, aber ich habe das Modell nur noch in dunkelrot bekommen. Also ging Dave hin und hat die Gitarre komplett umgebaut und neu lackiert, so wie ich sie haben wollte. Der Mann ist unbezahlbar, und viel mehr als ein Knöpfchendrücker. Er ist jetzt mehr Bandmitglied als früher und hat aktiv an den neuen Songs mitgearbeitet. Und natürlich produziert er unsere Livetracks für den Doktor, die auf der Bühne gesequenzt werden.


Vorhin hast Du gesagt, dass ihr auch an den alten Songs immer wieder mal rumbastelt. Aktuell ist dabei eher wieder ein Trend zu den ursprünglichen Versionen zu erkennen. Ist das Fan-Service?

Nicht unbedingt; sowas entsteht eher ganz nebenbei, wenn wir uns auf eine Tour vorbereiten. Wir wollen die Songs für uns und die Fans frisch halten, also hatte das in der Band immer schon eine gewisse Tradition. Als ich eingestiegen bin, war die Band dahingehend gerade auf dem Höhepunkt einer “Experimentierphase”: Das Publikum hat manche Nummern gar nicht mehr erkannt, weil sie z.B. entweder sehr schnell oder sehr langsam gespielt wurden. Mit der Zeit sind wir dann tendenziell eher wieder zu den ursprünglichen Versionen zurückgekehrt. Zuletzt haben wir uns z.B. den Albumtrack “I Was Wrong” vorgenommen. Den hatten wir früher mal in einer Art Unplugged-Version gespielt, sehr akustisch also. Jetzt klingt er wieder mehr wie auf “Vision Thing”, und sowohl wir als auch die Fans haben offensichtlich viel Spaß mit der Nummer. Manchmal ist es auch nur ein kleines Riff, das wir wieder hinzufügen, um einem Song eine neue Dynamik zu geben. Aktuell hat sich mit Dylan auch viel an unserem Hintergrundgesang geändert, z.B. bei “This Corrosion”.


Zum Schluss nochmal ein Sprung in die Gegenwart: Du hast erwähnt, dass ihr noch mehr neues Material am Start habt, und auf Eurer Webseite sind schon neue Songtitel zu sehen. Was davon ist schon fertig, und wisst Ihr schon, was Ihr spielen werdet?

Ich glaube, Du kannst Dir meine Antwort denken, oder? (grinst) Das wird natürlich noch nicht verraten. Kommt zu den Shows und findet es raus!

Interview: Thomas Mang | Bilder: Lara Aimée, Thomas Vanderstappen

Garage, Saarbrücken

Donnerstag, 14. April 2022